Ossi bleibt Ossi
 
 

Anna Klein lernte ich durch ihren Eintrag in meinem Gästebuch kennen. In diesem Gästebucheintrag hatte sie sich als Ostberlinerin "geoutet". In einer ersten E-Mail erzählte ich ihr von meinem Vorhaben, meine Mauer-Bilder ins Netz zu stellen. Und dass ich auch an Hintergrundberichten "aus der Zone" interessiert wäre. Ich wusste nicht, dass Anna erst 24 ist, doch sie schrieb, sie hätte "damals" schon genügend diskutiert und mitgefiebert. Also habe ich mit ihr nachstehendes E-Mail-Interview geführt.


Anna Klein, Berlin, U-Bahnhof Alexanderplatz

"Wie bist du groß geworden, als typische DDR-Bürgerin?"

Am 3. Oktober 1976, dem heutigen Tag der Deutschen Einheit, wurde ich in Berlin geboren. Im März 1977 sind wir nach Dubna (UdSSR) gezogen, da mein Vater dort an einem physikalischen Forschungsprojekt mitgearbeitet hat. Solche Austauschprojekte waren nicht selten. Im September 1978 wurde mein Bruder geboren. Wir besuchten beide die Kinderkrippe. Im Sommer 1981 kehrten wir nach einer wunderschönen und interessanten Zeit, an die ich viele Erinnerungen habe, in die DDR zurück. Ich konnte perfekt russisch sprechen, was ich im laufe der Zeit leider verlernt habe.

Wir wohnten dann in Königs Wusterhausen bei Berlin in einer Neubausiedlung. Ich besuchte den Kindergarten, da beide Eltern berufstätig waren.

Im Herbst 1982 zogen wir nach Berlin-Johannisthal. Nach einem weiteren Jahr Kindergarten wurde ich am 1. September 1983 in der 26. POS (Polytechnische Oberschule) eingeschult. Ich war in all den Jahren eine sehr gute Schülerin. Wir hatten auch Sonnabendvormittag Schule, lernten Russisch als erste Fremdsprache und hatten in den ersten 10 Jahren Schule republikweit die gleiche Ausbildung.

Meine Mitschüler wählten mich in jedem Jahr zum Gruppenratsvorsitzenden (Klassensprecher – Vorsitzender der Pioniere) und delegierten mich zum Freundschaftsrat (Schülervertretung).

Ich wurde erst Jung- und dann Thälmannpionier, wie fast alle meiner Mitschüler. In den zahlreichen Pioniernachmittagen bastelten wir, suchten Eicheln und Kastanien für den Tierpark und machten allerhand lokal-orientierte Erkundungen. Wir hatten einen kirchlich orientierten Mitschüler, den wir zu unseren Nachmittagen einluden, an denen er gern teilnahm.

Ich besuchte einen Malzirkel, nahm Klavierunterricht und betrieb aktiven Kanurennsport, der mich gefordert, und mir viel Spaß gemacht hat. Auf Drängen meiner Eltern hörte ich jedoch mit dem Kanusport auf, als die Forderungen zu extrem wurden und, wie ich im nachhinein verstanden habe, mir Dopingmittel angeboten wurde, um meine Leistungen noch weiter zu steigern. Ich habe dann in einer Mädchenmannschaft begonnen, Tennis zu spielen.

Im Dezember 1988 wurde meine Schwester geboren. Im April 1991 hatte ich gemeinsam mit meiner Klasse Jugendweihe, die wir trotz Wende und der neuen Zeit nach DDR- Tradition begangen haben, auch wenn wir das immer zur Jugendweihe überreichte Buch "Weltall, Erde, Mensch" nicht bekamen.

Ja, das war wohl insgesamt typisch für eine Jugendzeit in der DDR.

 

Anna (Mitte) beim Pioniernachmittag

"Würdest du sagen, dass dich die DDR geformt hat?"

Ja, das hat sie. Zumindest auf politischer und sozialer Ebene. Werte, wie Solidarität, Gemeinschaft, Gleichheit, Für einander sorgen und sich um seine Mitmenschen kümmern spielten nach meiner Beobachtung im täglichen Leben eine größere Rolle als heute. Ich bin mit dem System Kapitalismus und dem Streben nach Macht, Erfolg und Geld noch nicht wirklich warm geworden.

"Als die sozialistische Welt noch in Ordnung war, warst du stolz auf dein Land?

Ich denke, dass ich im Nachhinein sagen kann, dass die DDR-Bürger größtenteils schon stolz auf ihr Land waren. Deswegen war es vielleicht auch so schwer, die folgende dauernde Negativierung und Schlechtmachung der DDR im allgemeinen zu ertragen. Und zwar von denen, die sich eigentlich nicht wirklich damit auskannten, weil sie ja nicht in der DDR gelebt haben. 

Der Aussage, dass die sozialistische Welt irgendwann wirklich in Ordnung war, kann ich aus heutiger Sicht nicht zustimmen.

"Was hast du mit dem Begriff "Deutschland" verbunden? Was hast du damals mit dem Begriff 'Deutschland einig Vaterland' verbunden?"

Der Begriff "Deutschland" war nie wirklich Thema. Es gab die Deutsche Demokratische Republik und die BRD. Dass da ein gemeinsames "Deutschland" entstehen würde, stand eigentlich nie zur Debatte. Der Begriff war eher historische belegt. Die Zeile der DDR-Hymne "Deutschland einig Vaterland" war ursprünglich wörtlich so gemeint, erwies sich dann aber als unrealisierbar, jedenfalls nach kommunistischem Vorbild oder Orientierung. Später durfte sie nicht einmal mehr laut gesungen werden.

"Hast du jemals vor 1989 gehofft, einmal nach Westdeutschland a) reisen zu dürfen b) übersiedeln zu dürfen?"

Aufgrund seines Berufes als Physiker, war mein Vater in der Lage, mehrmals ins Ausland zu reisen. Damit sind häufige Arbeitsaufenthalte in Hamburg gemeint, sowie Kongresse oder Meetings in anderen Ländern, in die wir als Familie sehr gerne mitgereist wären: Singapore, USA, Frankreich, Italien. Uns blieben da die Dias und blumige Erzählungen. Übersiedeln wollten wir nie. Diese Frage kam Anfang 1989 erneut auf, als die Geschwister meiner Mutter sich entschieden hatten, die DDR für immer zu verlassen. Die Vorstellung, so enge Teile der Familie nicht wiedersehen zu dürfen, war sehr schmerzhaft für uns alle.

"Hattest du Westkontakt?"

Großonkel und -tanten hatte ich in Kiel, Berlin(West) und Darmstadt. Sie kamen zu bestimmten Feierlichkeiten wie Geburtstage oder Hochzeiten zu Besuch. Die üblichen "Westpakete" haben wir auch bekommen, zumindest an Geburtstagen und zu Weihnachten. 

"Hast du Westfernsehen gesehen?"

Da ich nicht an der Ostseeküste hinter Rügen oder im Raum Dresden, im sogenannten "Tal der Ahnungslosen", aufgewachsen bin, konnten wir Westfernsehen empfangen und haben es auch geschaut. So begleiteten mich McGyver, Colt und General Hospital an vielen Nachmittagen. In strengeren Schulen/Familien wurde offiziell verboten, Westfernsehen zu schauen oder Rias zu hören. Das war bei unserer offenen Familie nicht der Fall. Wir hatten die „Bravo“, wenn auch selten, und konnten über die Reisen meines Vaters auch an andere Zeitungen kommen.

"Glaubtest du daran, die USA und Westdeutschland seien eure Feinde?"

Diese Propaganda wurde sehr intensiv und schon in frühester Zeit eingesetzt. Wenn ich mir Auszüge aus unseren Geschichtsbüchern ansehe, dann kann ich das auch beweisen. Dennoch kann ich nicht wirklich sagen, dass die USA und die BRD meine Feinde waren. Vielleicht war auch ein so positives Bild der Überlegenheit der UdSSR und der DDR in unseren Köpfen, dass wir uns darüber nicht intensiv auseinander setzen mussten.

"Hättest du dir vorstellen können, mit denen aus Westdeutschland einmal in einem gemeinsamen Staat zu leben?"

Nee, wirklich nicht. Fällt mir bis heute manchmal schwer...

"Was wusstest du über die Mauer, hast du damals jemals Bilder von ihr gesehen?"

Da ich in einem Grenzbezirk Berlins, das übrigens für uns immer nur Berlin und nicht Berlin (Ost) hieß, aufgewachsen bin, war der Umgang mit "Mauer" nicht zu vermeiden. An bestimmten Stellen in Berlin konnte man die Mauer sogar sehen. Interessant waren die Wohnungen, die ihre Fenster Richtung "Westen" hatten, dennoch nur öde Fläche oder hohe Mauern sehen konnten.

Die sogenannten "Grenzgebiete" waren richtige Sperrzonen, die nur mit ausdrücklicher Erlaubnis zu betreten waren. Ich war 1987 bei einem Kindergeburtstag einer Freundin sehr nahe bei der Grenze zu West-Berlin. Mein Vater wollte mich abholen und kam mit Verspätung an, weil er ausführlich kontrolliert und befragt wurde. Ich erinnere mich, dass meine Freundin immer einen Zugangsausweis bei sich trug, diese Regeln mögen aber in anderen grenznahen Gebieten ähnlich sein.

"Was hast du selbst geglaubt, warum es die Mauer gab?"

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir darüber wirklich Gedanken gemacht habe, warum es eine Mauer gegeben hat. Als ich geboren wurde, gab es die Mauer und wurde auch nicht wirklich, zumindest nicht von mir, in Frage gestellt, auch wenn mir die Nachteile bewusst waren.

"Was wusstest du damals über die Stasi?"

Über die Staatssicherheit wusste ich nicht viel. Ist ja auch Sinn und Urgedanke einer Staatssicherheit, dass nicht jedes kleine Kind genau weiß, was sie machen.

"Kanntest du jemanden, der in der Stasi war?"

Ja, einige. Zumindest vom Hören-Sagen Eltern von Mitschülern, gemunkelt wurde kurz nach der Wende auch, dass mein Direktor bei der Stasi war und einige unserer Lehrer. Von nachgewiesenen Kontakten, die es sicher gab, was für eine Intellektuellen-Familie auch nicht so untypisch war, zudem einer, deren Mitglieder ins Ausland fahren durften, weiß ich in unserer Familie. Den Unterschied von Kontakten und aktiver Mitarbeit für die Stasi hab ich zumindest verstanden, die Medien im allgemeinen wohl eher noch nicht. 

"Wenn man dich damals auf der Straße gefragt hätte: 'Was fällt dir spontan zur BRD ein?', was hättest du wohl als erstes gesagt?"

Westfernsehen, Popcorn, McDonalds, Sandra, Kinderschokolade oder auch: das Land da drüben, in dem die auch unsere Sprache sprechen und wo es Werbung gibt und sonst noch sehr viel, von dem ich gar nicht weiß, dass es das gibt.

"Hättest du das gleiche gesagt, was du auch gedacht hast? Falls nicht, was hast du gedacht?"

In Anbetracht der Tatsache, dass ich mit maximal 12 Jahren hätte gefragt werden können, hätte ich das gleiche gesagt, was ich auch gedacht habe. 

"Wie hast du den 9. und 10. November 1989 erlebt?"

Nach der großen Demonstration am 4.November auf dem Alexanderplatz in Berlin und den Vorwende-Turbulenzen und vor allem dem fehlenden Gefühl dafür, dass sich das, was sich so viele Menschen erträumt haben, nämlich den Fall der Mauer und der Änderung des Systems, so schnell erfüllen würde, haben wir diese beiden Tage zu Hause verbracht. Zumindest sind wir nicht gleich nach "drüben", obwohl die Grenze wie gesagt nicht wirklich weit war. Ab dem 10.November waren die Klassenzimmer leerer als die Tage zuvor, die Bilder im Fernsehen verrieten, dass man jetzt relativ ungehindert nach Westberlin fahren darf.

Am Wochenende nach dem Fall der Mauer sind wir dann abends nach Westberlin gefahren und haben uns die 100 DM Begrüßungsgeld abgeholt und kamen uns dabei etwas deplaziert vor. Mein erstaunlichstes Erlebnis war der Besuch einer Tankstelle, an der man nicht nur, wie bei uns üblich, Benzin kaufen konnte, sondern auch Eis, Getränke, Zeitschriften und Gummibärchen. Und es war eine sehr kleine Tankstelle...Dann sind wir zum Ku-damm gefahren und in die noch spät geöffneten Geschäfte gegangen, um uns ein wenig umzusehen. 

Inzwischen kenne ich mich in Westberlin schon sehr gut aus, entdecke dennoch immer wieder Ecken, an denen ich noch nie war. Der Name der anderen Hälfte der Stadt wird wohl immer in meinem Kopf "Westberlin" bleiben..

"Was hast du an diesem Tag für die Zukunft deines Landes gehofft?"

Die Hoffnung auf veränderte Umstände und eine neue Regierung waren damals sehr stark. Es gab viele Diskussionen in der Familie, bei Treffen mit Freunden der älteren Generationen und öffentliche Gesprächsrunden und Initiativen, die nicht die schnelle Übernahme zum Ziel hatten. Die Chance, so schien es, war da, die Wandlung einer Gesellschaft selber in die Hand zu nehmen und Vorstellungen, die man von einem Land hatte, in dem es den Menschen gut geht, endlich umzusetzen. Ideen dazu gab es viele. Das Engagement der Runden, der Kirche, vieler Menschen und neuer Bewegungen war mutgebend und hoffnungsvoll. "Wir sind das Volk" war in aller Munde, unglaublich mit anzusehen, wie schnell es sich Anfang 1990 zu "Wir sind ein Volk" wandelte. Viel unvorstellbarer noch, wie wenig von den Ideen im Endeffekt umgesetzt wurden und wie einfach die Annexion eines wirtschaftlich so schwachen Landes vonstatten ging.

"Fühlst du dich jetzt als Deutsche oder als EX-DDR-Deutsche?"

Ich fühle mich, das habe ich während meiner langen Zeit in Frankreich gemerkt, als Deutsche, die wohl ihr Leben lang "Ossi" bleiben wird. "Und das ist auch gut so"..

"Wann warst du zum ersten Mal im Westen?"

Wenn man Westberlin mal nicht als "Westen" bezeichnet, war ich kurze Zeit nach dem Mauerfall in Hamburg, um dort meine Familie zu sehen. Daran habe ich aber wenig Erinnerung.

"Was waren deine ersten Eindrücke vom Westen?"

Ein Eindruck vom Westen, den ich schon sehr zeitig hatte, ist, dass alles sehr bunt ist. Farbig und grell, leuchtend und kontrastreich, vielfältig dadurch, vielleicht, aber auch ablenkend. Mir gefällt die Farbenfröhlichkeit besser als das Grau des Ostens.

"Was ist heute dein Eindruck vom Westen?"

Der Westen oder besser formuliert das westliche System, das wir ja formell bei uns auch jetzt haben, hat für mich viel mit Eigentum, Besitz und Geld zu tun. Diese Werte, nämlich sich etwas leisten zu können, reich zu sein und Grundstücke und Häuser zu besitzen oder auch nur das Geld, eine eigene Firma zu gründen und selbständig zu arbeiten, haben heute bei uns einen viel zu großen Stellenwert erreicht. In meiner Familie, in der selten über Geld gesprochen wurde, weil es weder zu knapp noch zu reichlich für das war, was wir wollten, spielen Vermögen oder auch Erbschaftsfragen inzwischen auch eine Rolle. Und das finde ich nicht gut. Mir gefallen die Werte, wie Liebe, Freundschaft, Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit viel besser, sie sollten das Leben dominieren und nicht die leidige Frage nach dem Geld. Und um auf meinen Eindruck vom Westen zurückzukommen, denke ich, dass die von mir favorisierten Werte dort eine geringere Rolle spielen als sie es sollten. Ein Rentensystem, das eines der fortschrittlichsten ist, wird bemängelt und der Einsparungen wegen gemindert, die gelobte Soziale Marktwirtschaft entwickelt sich nach dem Wegfall des Sozialismus eher in Richtung Markt.

"In welchem Punkten deckt sich dein heutiger Eindruck mit dem, was du damals  über den Westen in der Schule gelernt hast?"

Unter dem Titel "Imperialistisches Staatensystem" wird in meinem Geschichtsbuch über die Gründung der EWG und über die Pariser Verträge gesprochen. Die "Unterdrückung demokratischer Kräfte" im "Imperialismus" wird durch die Verbote der FDJ 1951 und der KPD 1956 in der BRD untermauert. In Geografie haben wir schon sehr genau lernen müssen, welche Flüsse und Städte es gibt und welche Bodenschätze an welchen Orten liegen. Die politischen und gesellschaftlichen Informationen über die BRD waren sehr stark propagandistisch gefärbt. Ob der Versuch, das westliche System zu diskreditieren bei allen Schülern gelungen ist, mag ich nicht zu sagen. 

"Gibt es Dinge, die du heute über die DDR weißt, die du nicht gewusst hast, solange du dort gelebt hast?"

Das Wissen um persönliche Schicksale von neuen Freunden und deren Bekannten sowie anderer nach der Wende sehr berühmter Menschen habe ich erst nach der Wende erlangt. Freundinnen, die kirchlich erzogen waren, sind mit dem festen Wissen zur Schule gegangen, vielleicht nie Abitur machen zu dürfen oder gar zu studieren. Bekannte sind aufgrund anderer Ansichten und Vorstellungen vom Leben und ihrer persönlichen Freiheit ins Gefängnis gewandert oder wurden ausgewiesen. Die Maueropfer-Tragik war mir damals nicht bewusst.

"Was war besser in der DDR als im jetzigen Gesamtdeutschland?"

Es gab keine Arbeitslosigkeit. Das möchte ich so pauschal stehen lassen, bei allen Kommentaren zu Scheinarbeitslosigkeit und Menschen, die zwar Arbeit hatten, aber sogenannte "Bummelanten" waren. Die Bestätigung eines Menschen, die er zumindest in unseren Breitengraden durch Arbeit hat, wird bei Arbeitslosigkeit in Gefühle von Versagen, Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit gewandelt.

Der Umgang mit arbeitenden Frauen gefiel mir in der DDR auch viel besser. Einerseits, weil sie nicht extra dafür kämpfen mussten, Arbeit zu bekommen und sich nicht besonders in den Vordergrund stellen mussten, um mit den Männern mitziehen zu können. Und andererseits weil sie die Gesellschaft unterstützt und in ihren Ansprüchen akzeptiert hat. Den Ostfrauen, die Mutter, Ehefrau und Arbeiterin in einem, sowie gesellschaftlich und freizeittechnisch aktiv waren, gebührt ein hoher Respekt, zumindest meinerseits. Das gilt selbstverständlich für alle Westfrauen, die dasselbe getan haben..

Die Kinder- und Jugendfürsorge war zu DDR-Zeiten meines Erachtens auch besser, weil umfassender. Das soziale Netz, durch das niemand fallen sollte, galt besonders auch in diesem Bereich. Dazu zählen: Kinderkrippen und -gärten, Schulhorte und Pionierzentren, die berufstätigen Eltern die Möglichkeit gaben, ihre Kinder gut betreut zu wissen, Ferienlager, an die ich mich persönlich noch mit großer Freude erinnere, sowie die Unterstützung, dass jedes Kind Sport treibt, ein Instrument lernt oder sonst irgendwie engagiert ist.

Dass Lehrer außer ihrem Auftrag der Stoffvermittlung auch ein Auge auf das Sozialverhalten und -umfeld haben sollten, ist bestimmt umstritten. Ich ziehe dies meinem heutigen Eindruck von "das geht mich gar nichts an, was bei dem Kind zu Hause passiert, ich mache nur meinen Stoff" eindeutig vor.

Was mir im Vergleich zu heute auch aufgefallen ist, ist das durchaus solide und gute Bildungssystem der DDR. Bei allen Vorteilen von Individualität und freier Entfaltung gefällt mir die Allgemeinbildung, die wir genossen haben. Und das beziehe ich darauf, dass wir mit allen Fächern früher angefangen haben, z.B. Biologie 2 Jahre eher im Vergleich zu heute, und alle Schulfächer bis zum Ende der Schulzeit hatten, ohne die Möglichkeit zu haben, ungeliebte Fächer abzuwählen.

"Kannst du dir vorstellen, dass dich Leute aus dem Westen jemals wirklich verstehen werden, oder wird die Generation, die noch getrennt aufgewachsen ist, bis an ihr Lebensende innerlich 'Wessi' und 'Ossi' bleiben?"

Diese Frage würde ich gerne teilen. Ob die Leute aus dem Westen mich jemals wirklich verstehen werden, kann ich nicht beurteilen. Ich hoffe es sehr und denke, dass es funktioniert, wenn sie es intensiv versuchen würden. Solange das nicht passiert, verändert sich gar nichts. Wichtig dabei ist, dass sie offen bleiben, um sich ein Gesamtbild zu verschaffen. Das heißt, dass sie aufpassen sollten, sich nicht zu sehr durch gehörte oder gelesene Einzeleindrücke beeinflussen zu lassen, und diese dann als Wahrheit zu definieren.

"Hier hat einst eine schreckliche Mauer die Menschen getrennt" - Cartoon von Barbara Henninger
© Barbara Henninger/www.cartoonkarten.de

Ich denke, dass die Generationen leider auch noch über das Lebensende der Getrennten hinaus im Herzen ihr "Ossi" und "Wessi" behalten werden.

(Juni 2001)

Kontakt: Anna Klein